Ein Zauberer in einer verrückten Welt
Zu Beginn der 1920er Jahre bekam Max Ernst in Deutschland durch die Ausstellung provokanter Werke öffentlichen Ärger. Dies hatte private Probleme zur Folge und führte schließlich zu einem Bruch mit seiner Familie, seinem Vater. Ernst hatte einige Freunde in Frankreich, Paul und Gala Eluard, Tristan Tzara, Andre Breton und andere. Auf deren Einladung siedelt er 1922 endgültig nach Paris um. Aus dieser Zeit stammt sein berühmtes Gemälde ›Das Rendezvous der Freunde‹, mit dem er dem frühen Surrealistenkreis ein Denkmal setzt.
Max Ernst, Das Rendezvous der Freunde, 1922 Öl auf Leinwand, 130x 195cm
Auf zwei Tafeln links und rechts sind insgesamt 17 Personen namentlich aufgeführt. Vorn links sitzt Rene Crevel an einem imaginären Klavier. Es folgen Max Ernst, auf den Knien Fjodor Dostojewskis sitzend, Theodore Fraenkel, Jean Paulhan, Benjamin Peret, Johannes Theodor Baargeld, Robert Desnos. In der hinteren Reihe stehen Philippe Soupault, Hans Arp, Max Morise, Raffael, Paul Eluard, Louis Aragon (mit Lorbeerkranz um die Hüften), Andre Breton (mit rotem Schal), Giorgio de Chirico und Gala Eluard. Es fehlen Tristan Tzara und Francis Picabia
Jetzt kann sich die schon lange vorbereitete und in der letzten Zeit immer mehr Gestalt gewinnende neue Qualität seiner Arbeit entwickeln. Seine Abkehr und Flucht aus der Kunstgeschichte schlägt nun mehr und mehr in eine neue, eigene Formensprache um.
Nach dem Gemälde ›Der Elefant Celebes‹, das noch 1921 in Köln entstanden ist, gehört der ›Ödipus Rex‹ zu den ersten Bildern, bei denen der Künstler die Technik der Kombinatorik, der Montage und der Collage mit Erfolg ins große Format übertragen hat. In dem Werk ist keine eindeutige Raumsituation zu erkennen. In einem durch architektonische Elemente angedeuteten Raum sind Dinge zu erkennen, deren Größenproportionen nicht der Realität entsprechen.
Durch ein Fenster greift eine Hand nach einer Nuß. Sowohl die Finger der Hand als auch die einem geschlossenen Auge ähnelnde Nuß sind von einem Gerät durchbohrt, das man zur Kennzeichnung von Küken verwendet. Die leicht offen stehende Nuß (Auge) erinnert an Luis Bunuels Film ›Un Chien andalou‹ (›Ein andalusischer Hund‹) von 1929 [in dessen Eingangssequenz ein Mann mit einem Rasiermesser das Auge einer Frau durchschneidet]. Durch eine kleine Öffnung auf einer Vordergrundbühne sind zwei Vogelköpfe gesteckt. Ein Zaun und ein Faden/Seil fixieren sie. Einer der Vögel trägt Hörner.
Man kann das so interpretieren: Der Griff nach der verbotenen Frucht (die Hand greift nach der Nuß) und das Nachgeben der Neugierde (die beiden Vogelköpfe sind durch die Öffnung gesteckt, um etwas zu sehen) werden auf diesem Bild sofort mit einer Bestrafung geahndet. Die Anspielungen auf den antiken, menschheitsgeschichtlich außerordentlich bedeutsamen Mythos der Ödipusgeschichte sind zahlreich (Sehen, Blindheit, Durchbohrung). Der Ödipus-Mythos spielt in der Psychoanalyse Freuds eine sehr wichtige Rolle zur Erklärung der menschlichen Psyche.
Formal ist durch die harte Zeichnung und trockene Farbgebung vom äußeren Eindruck her eine große Nähe zu den Collagearbeiten gegeben.
Hände haben im Werk von Max Ernst eine herausragende Rolle. Sie sind nicht nur das Haupthandwerkszeug in der Sprache der Taubstummen, mit der der Künstler seit seiner frühesten Kindheit in Berührung kam, da sein Vater den Beruf eines Taubstummenlehrers ausübte. Sie sind in der alltäglich uns umgebenden Bilderwelt, z.B. in populären Gebrauchsanweisungen, ein immer wiederkehrendes Bildmotiv.
Diese Bilder vor Augen benutzt Ernst das Motiv im eigenen Werk. Ähnlich wie beim ›Ödipus Rex‹ greift in dem Wandbild ›Beim ersten klaren Wort‹ eine Hand durch eine fensterartige Öffnung in der Mauer und hält etwas fest, was dadurch gleichermaßen vorgezeigt wie gefangengesetzt ist. Vergleichbar mit der Nuß vom ›Ödipus Rex‹ ist es wieder eine Frucht, die diesmal von einer weiblichen Hand gehalten wird. Betrachtet man die Hand genauer, findet man einen möglichen Schlüssel zur genaueren Interpretation. Die gekreuzten Finger lassen sich als übereinandergeschlagene nackte Beine sehen/deuten. Sie halten zwischen ihren Fingerkuppen (Fußgelenken) eine rote kirschenartige Kugel, die ihrerseits eine dünne Schnur umschließt. An dem an zwei Nägeln aufgehängten Faden, der auf diese Weise den Buchstaben ›M‹ (Max) bildet, ist eine Stabheuschrecke befestigt, die über die Mauer zu klettern versucht. Die von den Fingern nur unsicher gehaltene Kugel würde im Falle ihres Entgleitens die Heuschrecke mit in die Tiefe reißen. Schnell wird man auch ohne genaue Kenntnisse der Symbolik ein gefährliches Spiel zwischen den Geschlechtern herauslesen können.
Aufgabe:
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