Frottage – eine Entdeckung von Max Ernst
Die Frottage (frz. frotter »reiben«) oder Abreibung geht auf ein altes chinesisches Verfahren zurück. Das in dieser Technik steckende künstlerische Potential wurde von Max Ernst entdeckt und weiterentwickelt. Bei der Frottage wird die Oberflächenstruktur eines Gegenstandes oder Materials durch Abreiben mit Kreide oder Bleistift auf ein aufgelegtes Papier übertragen.
›Histoire Naturelle‹ (Naturgeschichte)
In seiner Autobiografie hat Max Ernst den Mythos der Entstehung der Frottage-Technik so berichtet: »Am zehnten August 1925 brachte mich eine unerträgliche visuelle Heimsuchung dazu, die technischen Mittel zu entdecken, die eine klare Verwirklichung der Lektion von Leonardo mit sich brachten. Es begann mit einer Erinnerung aus der Kindheit. Es hatte eine Vertäfelung aus nachgemachtem Mahagoniholz, das sich gegenüber von meinem Bett befand, die Rolle des optischen ›provocateur‹ übernommen, eine Vision im Halbschlaf hervorzuzaubern. Ich befand mich nun an einem regnerischen Abend in einem Gasthaus an der See. Da suchte mich eine Vision heim, die meinem faszinierten Blick die Fußbodendielen aufdrängte, auf denen tausend Kratzer ihre Spuren eingegraben hatten. Ich beschloß, dem symbolischen Gehalt dieser Heimsuchung nachzugehen, und um meine meditativen und halluzinatorischen Fähigkeiten zu unterstützen, machte ich von den Fußbodendielen eine Serie von Zeichnungen, indem ich auf sie ganz zufällig Papierblätter legte und diese mit einem schwarzen Blei rieb. Als ich intensiv auf die so gewonnenen Zeichnungen starrte, auf die ›dunklen Stellen und andre von zartem lichtem Halbdunkel‹, da war ich überrascht von der plötzlichen Verstärkung meiner visionären Fähigkeiten und von der halluzinatorischen Folge von gegensätzlichen und übereinandergeschichteten Bildern, mit der Eindringlichkeit und Schnelligkeit, wie sie für Liebeserinnerungen charakteristisch sind. Meine Neugierde erwachte, und staunend begann ich unbekümmert und voll Erwartung zu experimentieren. Ich benutzte dazu die gleichen Mittel, alle Arten von Materialien, die ich in mein Blickfeld bekam: Blätter und ihre Adern, die rauhen Kanten eines Leinenläppchens, die Pinselstriche eines ›modernen‹ Gemäldes, den abgewickelten Faden einer Spule usw.
Da taten sich vor meinen Augen auf: menschliche Köpfe, Tiere, eine Schlacht, die mit einem Kuß endete, Felsen, das Meer und der Regen, Erdbeben, die Sphinx in ihrem Stall, die kleinen Tafeln rings um die Erde, die Palette Cäsars, falsche Positionen, ein Gewebe aus Eisblumen, die Pampas, Peitschenhiebe und Lavafäden, Felder der Ehre, Überschwemmungen und seismische Pflanzen, Fächer, der Sturz des Kastanienbaumes … die Geistesblitze unter 14 Jahren, das geimpfte Brot, die gepaarten Diamanten, der Kuckuck, Ursprung des Pendels, der Schmaus des Todes, das Rad des Lichtes. Ein System von Sonnengeld. Die Gewandung der Blätter, die faszinierende Cypresse. Eva, die einzige, die uns bleibt. Unter dem Namen ›Naturgeschichte‹ habe ich die ersten Resultate, die ich durch die Prozedur von ›frottage‹ (Durchreibung) gewann, zusammengetragen.«
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Im Gesamtwerk Max Ernsts finden sich viele Frottagen. Diese sind häufig zeichnerisch überarbeitet. Ernst konnte so die Gegenstände und Lebewesen, die er in den abgeriebenen Strukturen gesehen hatte, betonen und die Motive in eine Gesamtkomposition einfügen. Der Zufallsaspekt spielte für die Bildfindung eine große Rolle, die fertige Arbeit ist aber immer ein konstruiertes und komponiertes Bildgefüge.
Das kann man gut in der Serie ›Histoire naturelle‹ (›Naturgeschichte‹*) sehen, die Max Ernst 1926 als Originalgrafiken erstellte, sodann fotomechanisch vervielfältigte und veröffentlichte. Sie besteht aus 34 Frottagen. [Die Serie ist vollständig im Internetauftritt des Museum of Modern Art (MoMA), New York, einsehbar. Link] Das Besondere an der Serie ist die Offenheit der Bedeutung. Offenheit bedeutet dabei jedoch nicht Beliebigkeit. Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, daß Max Ernst wahllos irgendwelche Unterlagen benutzt hätte, um aus ihnen Strukturen zu gewinnen. Zwar schreibt er, daß er ganz »zufällig« Papierblätter über bestimmte Stellen gelegt habe und dann die Struktur bzw. das Muster durch Reibung hervorgebracht habe, genaugenommen aber muß man hier von einer bewußten Steuerung des Zufalls sprechen. Der Bildaufbau ist in dieser Seirie immer von einer sehr einfachen, aber strengen Komposition bestimmt.
* Naturgeschichte, auch Naturkunde und Naturlehre, ist eine historische Sammelbezeichnung für Wissensgebiete, die gewöhnlich mehreren verschiedenartigen Wissenschaften, überwiegend Naturwissenschaften, zugeordnet werden. Es wurden Bücher unter diesem Titel veröffentlicht, die den Anspruch hatten, das gesamte Wissen über die Natur umfassend und systematisch zu veröffentlichen. Hier knüpft Max Ernst mit seinem künstlerischen – also nicht wissenschaftlichem – Werk an.
Aufgabe:
Fertigen Sie zwei Arbeiten zu einer fiktiven ›Naturgeschichte‹ an.
Sehen Sie sich zur Inspiration Beispiele der Arbeiten von Max Ernst über den MoMA-Link an.
Verwenden Sie dabei die Technik der Frottage. Die Durchreibungen können Sie durch zeichnerische Elemente ergänzen. (Format: etwa A4) Suchen Sie zunächst in Ihrer unmittelbaren Umgebung nach geeigneten Flächen, mit denen man interessante Durchreibungen erstellen kann. Fertigen Sie kleine Arbeits-/Materialproben an, bevor Sie sich entscheiden, welche Oberflächen Sie verwenden möchten. Diese Materialproben sind ebenfalls Teil der Aufgabe und sollen miteingereicht werden.
Fotografieren Sie die beiden Arbeiten zur Naturgeschichte und die Materialproben. Senden Sie mir die Fotos bis zum 24.01.2021 über logineo zu. (Heben Sie Ihre Originalarbeiten auf, bis Sie mir diese zur endgültigen Bewertung über die Schule zukommen lassen können.)