Wie aus Literatur Bilder entstehen können 


 Louise Bourgeois wird zu ›Eugénie Grandet‹



 


 

 

Louise Bourgeois hat sich in einigen ihrer Werke stark mit einer Romanfigur des französischen Schriftstellers Balzac (1799-1850) beschäftigt. Diese Arbeiten wurden im Jahr 2010 im Geburtshaus Balzacs, das mittlerweile ein Museum ist, in einer Ausstellung mit dem Titel ›Moi, Eugénie Grandet‹ gezeigt. 

›Eugénie Grandet‹ ist ein Roman des französischen Schriftstellers Honoré de Balzac. Das Buch handelt von der Familie Grandet, die in Saumur an der Loire lebt. Vater Grandet ist einer der reichsten Männer der Umgebung und dabei unmenschlich geizig; sein ganzes Trachten und Streben gilt allein der Wahrung und Mehrung seines Vermögens. Die Mutter, seine Tochter Eugénie und das Hausmädchen führen in seinem Schatten ein stilles, freudloses Dasein.

Den Bezug zwischen dem Roman und dem Leben von Bourgeois kann man so herstellen. Zu ihrem Vater Louis hatte Louise ein sehr angespanntes Verhältnis. Er betrog ihre Mutter Joséphine Bourgeois zehn Jahre im eigenen Haus mit dem englischen Kindermädchen. Diese Erfahrungen, die sie als Kind machte, waren eine frühe Quelle für ihre späteren Arbeiten. In Interviews sprach sie immer wieder über die Wut auf den Vater, der seine Geliebte als Lehrerin für Louise im Haushalt beschäftigte; die Wut auf die Mutter, die die Anwesenheit der Konkurrentin in ihren eigenen vier Wänden jahrelang ohne Widerspruch duldete; das Gefühl, von allen verraten und verlassen worden zu sein: das ist die oft wiederholte Familienlegende. Als Erwachsene spicht Louise Bourdeois davon, sie sei als Kind »mißbraucht« worden.

Bourgeois starb, fast hundertjährig, wenige Monate vor Eröffnung der Ausstellung im Balzac-Haus, hatte aber deren Vorbereitungen noch erlebt. Die Kunstwissenschaftlerin Amine Haase schrieb zu diesen Arbeiten:

 

Moi, Eugénie Grandet – Ich, Eugénie Grandet: Das klingt wie ein letztes Bekenntnis einer Künstlerin, deren Arbeit von vielen Bekenntnissen begleitet war. In einem Interview berichtete sie im September 2009 von dem Projekt: »Ich liebe diese Geschichte. Es könnte die Story meines Lebens sein.« Die 1833 veröffentlichte Erzählung von Balzacs Eugénie, die unter der Strenge des geizigen Vaters und der Hilflosigkeit der kränkelnden Mutter zu ersticken droht und auf ein eigenes Leben verzichtet, ist natürlich nicht die Geschichte von Louise Bourgeois. Hätte es ihre sein können, wie sie vermutet?

Ihrem Hang zu unkonventionellen Bekenntnissen machte Louise Bourgeois erst spät Luft […] Mit über siebzig enthüllte sie die Geschichte ihres treulosen Vaters, ihres leichtlebigen englischen Kindermädchens und ihrer Mutter, die das Arrangement im eigenen Haus jahrelang duldete. Und sie erzählte die Story danach immer wieder, so dass aus dem eigentlich Banalen ein fetischisiertes Ritual wurde, das der Künstlerin kreative Flügel wachsen ließ. »Ich vergebe nicht und ich vergesse nicht. Das ist das Motto, das meine Arbeit nährt«, sagte sie noch 2006. Sie fühlte sich dreifach betrogen und nannte das Gefühls-Chaos im Hause Bourgeois »child abuse« [= Kindesmissbauch]. Hauptangeklagte ist die Mutter, die Louise benutzte, um ein Auge auf den Hausherrn zu haben. […]

Widersprüche und Paradoxien gehören zu Louise Bourgeois‘ Werk und Wort. So hat sie ihr Kunstmachen als eine Form von Selbsttherapie beschrieben und darauf hingewiesen, dass der Entschluss, Skulpturen herzustellen, von einem aggressiven Impuls ausgehe. »Man will jemandem den Hals umdrehen.« Vatermord? ›The Destruction of the Father‹ entstand 1974, gut zwanzig Jahre nach dem Tod ihres Vaters, und mag tatsächlich Einblick geben in Mordgelüste […].

Vor ihrer kruden Klage über ›Kindesmissbrauch‹ galt Louise Bourgeois als eher kurz angebunden, wenn sie zu ihrer Arbeit – und erst recht zu Persönlichem – befragt wurde. Bei dem ersten großen öffentlichen Erscheinen dann plötzlich dieses radikale Offenlegen des intimsten Familienlebens. Und das war fortan als Triebfeder ihres Tuns ausgemacht. Ihre Kunst wurde und wird durch die Freud‘sche Brille betrachtet – und die rückte die Künstlerin immer wieder geschickt zurecht.

[…] Eugénie Grandet ist die Gefangene ihres Vaters […]. Und so mag sich auch Louise Bourgeois gefühlt haben in dem vom Vater bestimmten Haushalt in Choisy-le-Roi, wo die Familie eine Galerie und Restaurierungswerkstatt für historische Textilien betrieb. Sie aber konnte »gerettet« werden, von ihrem Ehemann, dem amerikanischen Kunsthistoriker Robert Goldwater, mit dem sie 1938 nach New York zog. […]

Balzacs Haus kann den Besucher zurückversetzen in die Zeit, als der Chronist der ›Menschlichen Komödie‹ [seinen ausufernden Romanzyklus, in dem er die Gesellschaft seiner Zeit in allen ihren Facetten zu beschreiben versucht] die Leiden der Eugénie Grandet niederschrieb. Die kleinen niedrigen Räume schaffen die ideale klaustrophobische Atmosphäre für Louise Bourgeois. Die Arbeiten sind eher unspektakulär, Arbeiten auf Papier und alten Stoffen. Aber sie führen direkt in die Welt der »törichten Waschfrau« – karierte Tücher und rauhes Leinen, auf das Blumen appliziert, Glasperlen und Metallhäkchen aufgenäht sind, und unten rechts das Monogramm LB eingestickt ist. Zwei Blumen bilden die Zeiger einer gestickten Uhr, zwölf glänzende Steinchen ein Zifferblatt. Sehr einfach lassen sich die 16 Nadelarbeiten der Eugénie-Grandet-Serie kurzschließen mit der Textilrestaurierung, zu der die kleine Louise schon mit zehn Jahren in der väterlichen Werkstatt hinzugezogen wurde. […]





»Mich interessiert die Überwindung von Angst: Sich vor ihr zu verstecken, wegzurennen, sich ihr zu stellen, sie zu exorzieren, sich deswegen zu schämen und schließlich Angst vor der Angst zu haben.« Ängste und Obsessionen gelten als klassische Ausgangspunkte für künstlerische Sublimierung, und – mit oder ohne Sigmund Freud – werden die Beispiele der Kunstgeschichte rauf und runter zitiert. Louise Bourgeois ist sicherlich ein Paradebeispiel – wozu sie sich selber aufgebaut hat. […]

Sigmund Freud bezeichnete mit Sublimierung den Vorgang der Umwandlung von Trieb-Energie in künstlerisch-schöpferische, intellektuelle oder allgemeiner in gesellschaftlich anerkannte Interessen, Tätigkeiten und Produktionen.

So kehrt man doch wieder zu den Bekenntnissen zurück, setzt die von Louise verpasste Brille auf und sieht die Siebzigjährige in zotteligem Affenhaarmantel, mit überdimensionalem Latexphallus unter den Arm geklemmt, wie sie in Robert Mapplethorpes Kamera grinst. ›Fillette‹ [= kleines Mädchen] heißt die phallische Plastik aus dem Jahr 1968, und das »kleine Mädchen« öffnet noch einmal Sigmund Freud Tür und Tor: Die zwei Kugeln, die hinter Louises Zottel-Arm hervorschauen, kann man als Testikel, aber auch als Brüste sehen – maskulin und feminin zusammen. Wie eine Demonstration der Freud’scher These, dass jede Frau in Ermangelung eines Penis danach strebe, ihren eigenen Penis zu gebären, präsentiert Louise Bourgeois den Phallus als von ihr selbst erzeugt. La vieille dame indigne, The naughty old lady, die unartige alte Dame hat Eugénie Grandet weit hinter sich gelassen.

Amine Haase, Kunstforum, Band 207, 2011, Essay, S. 274


 


 

 

 

 

 

 

Aufgabe:

Lesen Sie den oben stehenden Text. Sehen Sie sich die Bildbeispiele an. Versuchen Sie, die Interpretationsangebote des Textes, der sich mehrfach auf die Psychoanalyse bezieht, nachzuvollziehen.